Das Tagebuch der Susi Schmerler

Im Juli 2018 erschien das von dem Bochumer Stadt-historiker Hubert Schneider veröffentlichte „Tagebuch der Susi Schmerler, eines jüdischen Mädchens aus Bochum“. Bei dem Tagebuch handelt es sich um den autobiographischen Text von Shulamith Nadir (Susi Schmerler), die als Jüdin in Bochum aufgewachsen war. Ihre Eltern, Cilly und Moritz Schmerler waren aus Osteuropa nach Deutschland eingewandert und hatten sich im Jahre 1912 in Bochum niedergelassen. Die von Schneider herausgegebenen autobiographischen Texte sowie der Briefwechsel zwischen Susi und ihrer Familie sind in den Jahren 1939 bis 1941 verfasst worden. Die Familie Schmerler, Cilly und Moritz und ihre Kinder Susi und Joseph Artur (Bubi genannt), ist im Rahmen der so-genannten „Polenaktion“ im Oktober 1938 ausgewiesen worden. Die Schmerlers hatten auch eine ältere Tochter, Fanny, die aber bereits vor den Abschiebungen in die USA ausgewandert war.

Hintergrund der Abschiebung von 17.000 Juden:Jüdinnen aus dem Deutschen Reich war ein Gesetzentwurf des polnischen Parlaments vom März 1938, welcher vorsah, dass alle polnischen Bürger:innen, die bereits mehr als fünf Jahre im Ausland lebten, die Staats-bürgerschaft aberkannt würde. Der polnische Staat reagierte mit diesem Gesetz auf die veränderte Lage der im Deutschen Reich lebenden jüdischen Menschen, die seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ausgegrenzt, diskriminiert, verfolgt und be- droht wurden. Die Situation der Juden:Jüdinnen verschärfte sich zusätzlich mit der Annexion Österreichs am 12. März 1938: Österreich war kein sicherer Zufluchtsort mehr und unterlag nun ferner der nationalsozialistischen „Judenpolitik“. Polen wollte mit dem neu erlassenen Gesetz einen Zustrom an jüdischen Emigranten verhindern. Das Gesetz   wurde am 6. Oktober 1938 verabschiedet – bis Ende Oktober war es allen im Ausland lebenden, polnischen Bürger:innen möglich ihre Pässe verlängern zu lassen, nach Ab-   lauf der Frist verloren die Pässen ihre Gültigkeit, und ihre Besitzer:innen die polnische Staatsangehörigkeit, und damit einhergehend  auch die Möglichkeit nach Polen zurück  zukehren. Im Deutschen Reich waren circa 30.000, in Österreich 20.000 Juden:Jüdinnen davon betroffen. Das Deutsche Reich reagierte auf das Gesetz des polnischen Parlaments, in-dem es im Oktober 1938 einen Ausweisungsbefehl erteilte, von welchem alle auf deutschem Staatsgebiet lebenden polnischen Juden:Jüdinnen betroffen waren. Die Zwangsausweisung begann am 27. Oktober – die betroffenen Menschen wurden in spontan organisierten Sammeltransporten und teilweise auch zu Fuß über die polnische Grenze abgeschoben. Da diese Menschen auf Grund der veränderten rechtlichen Lage  nun auch keine polnische Staatsangehörigkeit mehr besaßen, waren sie staatenlos – sie konnten weder ins Deutsche Reich zurück noch ohne weiteres nach Polen einwandern.  Die meisten größeren Transporte gingen nach Konitz (heute Chojnice) in Pommern, Beuthen (heute Bytom) in Oberschlesien und Bentschen (heute Zbąszyń in Großpolen). Alleine im Sammellager Zbąszyńs mussten bis zu 8.000 Juden:Jüdinnen zehn Monate lang verweilen.

Die Annastraße nahe der Bochumer Innenstadt war der letzte feste Wohnort der Familie Schmerler

Auch die Familie Schmerler war nach Zbąszyń gebracht worden. Am 5. März 1939 be-ginnen die Tagebucheinträge der Susi Schmerler. Das Schicksal der Susi Schmerler ist in vielerlei Hinsicht interessant: so handelt es sich um eine Überlebende, der im April 1939 die Flucht nach Palästina gelungen ist (wo sie sich in Schulamith umbenannte) , die aber im Alter von 15 Jahren ihre Eltern und den kleinen Bruder zum letzten Mal sah, da diese in Zbąszyń zurückblieben. Der Schmerz, von der Familie getrennt zu sein und die Sorge und Angst um die Eltern und den kleinen Bruders sind zentrale Momente des Tagebuchs. Der autobiographische Text gewährt uns intime Einblicke in die Gedankenwelt einer jungen Frau, die über den Abschied aus ihrer Heimatstadt Bochum, der Ankunft in Palästina und ihrem neuen Leben dort berichtet, von Einsamkeit und ihrem Briefverkehr mit der Familie. Auch wird in einigen der Tagebucheinträge die Zerrissenheit Susis deutlich. So schreibt  sie am 26. Juni 1940:

„Und wenn ich könnte wie ich wollte, dann würde ich auch wieder zu Euch zurück kommen und mit Euch Freud und Leid teilen. Hoffentlich ist das Schicksal mir gut gesinnt, daß mein Wunsch in Erfüllung geht. […]“

Am 21. August 1939 erhielt Susi den letzten Brief ihrer Eltern. Sie wandte sich Anfang Oktober desselben Jahres an das Rote Kreuz in Genf mit der Bitte die aktuelle Adresse ihrer Familie ausfindig zu machen, von welchem sie auch Antwort erhielt wie ein Briefumschlag aus ihrem Nachlass beweist – der Inhalt des Briefes ist bedauerlicher-weise nicht überliefert. Cilly und Moritz Schmerler sowie ihr Sohn ‚Bubi‘ gelten als verschollen. Schulamith Nadir verbrachte den Großteil ihres Lebens in einem Kibbuz südöstlich von Tel Aviv. Sie war zweimal verheiratet – ihr erster Mann fiel in den israelisch-arabischen Kämpfen nach der Unabhängigkeitserklärung Israels 1947 – und hatte drei Kinder (zwei aus erster Ehe und eins aus zweiter Ehe). Erstmals nach ihrer Vertreibung besuchte sie Bochum im Jahre 1962 wieder, im Rahmen ihrer Hochzeitsreise mit ihrem zweiten Ehemann. Eine weitere Reise nach Bochum fand im Jahre 1995 statt.

Auf Initiative des Vereins „Erinnern für die Zukunft“ hatte die Stadt Bochum Überlebende der alten jüdischen Gemeinde in die Stadt eingeladen. Bei diesem Besuch lernten sich Schulamith Nadir und Hubert Schneider kennen, und ein regelmäßiger Briefwechsel entstand. Im Jahre 1997 verfasste sie einen autobiographischen Bericht über ihren Besuch in Bochum, den sie im März des darauffolgenden Jahres an den Verein „Erinnern für die Zukunft“ schickte. Besonders eindrücklich schildert sie die Begegnung mit dem Sohn eines Lokomotivführers, der die Züge mit den Menschen nach Ausschwitz ge-  fahren hatte. Auch reflektiert sie über das Schicksal ihrer Familie:

„[…] Ich kam mit einer Jugendgruppe nach Palaestina. Nichts hatte mir gefehlt. Ich lebte mein Leben und meine Jugend, und was war mit mir, als Euer Zug Euch zur letzten Station brachte? Vielleicht waren dies die letzten Stunden Eures Lebens? Vielleicht war ich in diesen Stunden gluecklich und zufrieden und vielleicht wanderte ich mit einem geliebten Menschen in den Duenen bei Vollmondnacht? Mutter, dein Name und Vaters Name erscheinen im Gedenkbuch von Yad Vashem, doch nicht der Name vom kleinen Bruder? Was geschah mit ihm? Vielleicht fiel er wilden Hunden auf vier oder zwei Beinen zum Opfer? […].“ 

Ein Auszug aus dem Originaltext des Tagesbuchs

Das Tagebuch der Susi Schmerler ist eine eindrückliche und wertvolle Quelle, die sich auch für den Schulunterricht hervorragend eignet. Die Perspektive eines jugendlichen Mädchens, das alleine flüchtete, und deren Familie Opfer des Holocaust wurde, und die damit verbundenen (Schuld-)Gefühle der Autorin, sind gerade unter den Gesichtspunkten der Multiperspektivität sowie des Lebensweltbezugs eine sinnvolle Ergänzung für die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen im Geschichtsunterricht (und darüber hinaus.) Es ist der mühevollen Arbeit Hubert Schneiders zu verdanken, sowie Schulamith Nadir, die die Texte zur Verfügung stellte, dass uns diese Quelle nun in Druckform vorliegt. Der Band, der beim LIT Verlag erhältlich ist, ist Schulamith Nadirs Eltern Cilly und Moritz Schmerler sowie dem Bruder Joseph-Artur („Bubi“) gewidmet. Schulamith Nadir verstarb im Jahre 2001. In der Annastraße 26 (ehemals Königsstraße) wurden am 2. November 2007 drei Stolpersteine zum Gedenken an  Moritz, Cilly und Joseph-Artur Schmerler verlegt.

Die Stolpersteine in der Annastraße 26

Von Luise Mohr

 

Weiterführende Literatur:

Schneider, Hubert: Das Tagebuch der Susi Schmerler, eines jüdischen Mädchens aus Bochum, Münster 2018.

Das Bundesarchiv: Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945. https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/introduction/#abschiebung (Zuletzt aufgerufen am 14.05.2021)

Die Bundesregierung: Ausgewiesen. Die Geschichte der „Polenaktion“.  https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/ausgewiesen-die-geschichte-der-polenaktion–1508272 (Zuletzt aufgerufen am 14.05.2021)

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